Breakout 2022
Den Kreislauf durchbrechen
Impact-Driven Development gegen häusliche Gewalt
21. Oktober 2022 / Melisa Akbaydar
Während underer diesjährigen »Breakout« Week bei Turbine Kreuzberg ist etwas wirklich Bemerkenswertes passiert. Kurz zu Breakout: Das sind fünf mit großer Spannung erwartete Tage im Spätsommer, an denen das gesamte Team eine Pause von der täglichen Arbeit einlegt, unsere Kolleg:innen eigene Projektideen einbringen und sie in die Praxis umsetzen.
Karolina Kaiser, normalerweise eine unserer Delivery Manager:innen, schlug eine einfache, aber wirkungsvolle Idee vor: ein Online-System zur Unterstützung von Opfern häuslicher Gewalt und Missbrauch zu schaffen. Die Idee erregte schnell die Aufmerksamkeit eines ganzen Turbine-Teams, die zunächst eineinhalb Tage lang Brainstorming betrieben und verschiedene Ansätze recherchierten, um einen allgemein anwendbaren, sicheren Weg zu finden, die Opfer zu erreichen. Schließlich entschied sich das Team für sein Ziel: ein offenes Widget zu etwickeln, das auf jeder Website im Internet integriert werden kann. Am Ende wurde das Ergebnis ihrer Arbeit mit dem Preis "Biggest Impact" unter allen Breakout-Projekten belohnt. Und ihre Arbeit geht weiter.
Woher kam die Idee?
In der Breakout-Woche sah Karolina eine einzigartige Gelegenheit, die Entwicklungsstärke von Turbine Kreuzberg für eine würdige soziale Initiative zu nutzen. Mit Hilfe eines Teams von erfahrenen, kreativen Entwickler:innen und Projektexpert:innen sah sie die Möglichkeit, etwas zu schaffen, das einen nachhaltigere Effekt haben könnte als beispielsweise eine Spende für einen guten Zweck. »Was mich an dem Projekt reizte, war die Herausforderung, ein nützliches Tool für ein komplexes Thema zu entwickeln, für das ich keine Fachkenntnisse habe. Ich erwartete davon, mehr über dieses ziemlich sensible Thema zu erfahren, und hoffte natürlich, dass wir auch gemeinsam einen Beitrag zu seiner Bekämpfung leisten können«, sagt Susan Greco, Product Owner bei Turbine Kreuzberg, die sich dem Projektteam ebenfalls angeschlossen hatte.
Es gibt zahlreiche NGOs wie Terre des Femmes, das Hilfeportal Missbrauch, die Canadian's Women's Foundation oder International Alert, die sich für die Opfer von häuslichem Missbrauch einsetzen. Aufgrund der oft begrenzten Ressourcen ist es jedoch nicht immer möglich, diejenigen, die besonders dringend Hilfe benötigen, sofort zu erreichen. Das Team wollte einen Dienst anbieten, der eine schnelle und direkte Kommunikation zwischen einer betroffenen Person und einer geeigneten NRO ermöglicht. Für die Opfer ist es sehr wichtig, direkt von qualifizierten, geschulten Fachleuten Hilfe zu erhalten, anstatt von Laien. Außerdem sollten die sensiblen Daten und Informationen, die sich aus diesem Kontakt ergeben, von den entsprechenden Organisationen selbst verarbeitet werden.
Noch vor dem Start der Entwicklung wurde dem Team klar: Rückverfolgbarkeit ist ein wichtiger Faktor. Die gesamte Kommunikation zwischen den Opfern und den NGOs sollte völlig unsichtbar und sicher bleiben, und die Aktionen, die die Opfer auf ihren Geräten durchführen, sollten dort nicht gespeichert werden. Mit anderen Worten: Die zu entwickelnde Lösung musste für Täter:innen unauffindbar, aber für die Opfer überall leicht zu erreichen sein. Aus diesem Grund beschloss das Team, die Idee zu verfolgen, ein Widget-ähnliches Tool zu entwickeln. Ein Widget, das leicht verfügbar ist und einfach in Websites im gesamten Internet integriert werden kann, würde einem Opfer zahlreiche Möglichkeiten bieten, sich zu melden und Hilfe zu finden, selbst wenn der:die Täter:in eine davon blockieren sollte.
Das Team beschloss, das Widget »Vida« zu nennen – eine Abkürzung für »Victims of Domestic Abuse« (Opfer häuslicher Gewalt), das aber gleichzeitig auf Portugiesisch und Spanisch »Leben« bedeutet. Diese Verbindung zwischen der Bedeutung des Wortes und der Funktion des Widgets bestärkte das Team in seiner Wahl.
In dieser Form kann das Widget überall auf jeder Seite platziert werden, z. B. in der rechten oder linken Ecke am oberen oder unteren Rand, und bleibt sichtbar, ohne aufdringlich zu sein. Da das Design des Widgets möglicherweise nicht mit dem Design jeder Website kompatibel ist, hat das Team darüber nachgedacht, denselben Dienst nur über einen Link anzubieten, der im Text, in einer Fußzeile oder in einem anderen Teil der Seite versteckt werden kann. Mit dieser Lösung können sich Marken und Organisationen der Bewegung anschließen und Unterstützung leisten, und gleichzeitig markenkonform bleiben.
Klickt man auf das Widget selbst, öffnet sich ein Infokasten, der die Nummer einer lokalen Telefon-Hotline enthält, über die man je nach Land des Nutzers Hilfe erhalten kann, sowie eine Chat-Schaltfläche als individuelles Angebot für einige NRO, um eine NRO auf sichere und nicht zurückverfolgbare Weise zu kontaktieren. Außerdem wird das Handzeichen und seine Verwendung kurz erklärt. Darüber hinaus ist in der Infobox ein Button geplant, der die Standorte der nächstgelegenen Beratungsstellen als Pin-Points auf einer Karte anzeigt. Leider wurde diese Funktion auf künftige Projektphasen verschoben, da ein sicherer, nicht zurückverfolgbarer und kostenloser Kartendienst noch nicht gefunden wurde.
Das übergeordnete Ziel ist es, »alle notwendigen Informationen im Widget selbst zu haben, so dass es nicht notwendig ist, andere Websites zu nutzen, die Spuren hinterlassen könnten«, fügt Senior Developer Rozbeh Sharahi hinzu. »Wir wollen es den Täter:innen so schwer wie möglich machen, ihren Opfern zu verbieten, Hilfe zu bekommen. Ein Missbraucher kann nicht alle Websites blockieren, deshalb wollen wir dieses Widget so weit wie möglich verbreiten.«
»Ich bin davon überzeugt, dass Technologie integrativ sein und uns allen zugute kommen muss. Deshalb habe ich oft darüber nachgedacht, etwas zu schaffen, das einen echten Impact hat und nicht auf Profit ausgerichtet ist.«
– Karolina Kaiser
Das Widget wurde mit Javascript entwickelt, wodurch es sich an fast jede Umgebung anpassen lässt. Es ist flexibel und funktioniert auf jeder Website, unabhängig davon, mit welchem Technologie-Stack die Seite sonst aufgebaut ist. Ricardo Malveiro, als Senior Developer ebenfalls an dem Projekt beteiligt, erklärt: »Wir haben das kleine Widget mit Vue.js entwickelt, um den Code skalierbar und konfigurierbar zu machen und die Wartung so einfach wie möglich zu gestalten. Es gibt eine feste Struktur, die vorgegeben ist, die aber auch erweiterbar ist. Das bedeutet, dass man jede Funktion hinzufügen kann, um es zu einem noch umfassenderen Tool zu machen. Es war uns auch sehr wichtig, den Code quelloffen und auf GitHub zugänglich zu machen.« Alle, die einen Blick darauf werfen und sehen möchten, wie es auf der eigenen Website eingesetzt werden kann, können das Projekt auf GitHub besuchen.
Die Installation des Widgets dauert nur ein paar Minuten: einfach kopieren, testen und loslegen. Die Konfiguration des Widgets ist ebenfalls sehr einfach und erfordert nur die Auswahl aus einigen wenigen vorgegebenen Optionen. Es gibt zwei verschiedene Varianten des Codes, die sich nach Ländern richten. Wer das Widget auf der eigenen Website verwenden möchte, muss die Informationen entsprechend dem eigenen Standort anpassen. (Ein kleiner, aber wichtiger Hinweis: Alle anderen Code-Snippets, die im Internet zu diesem Widget gefunden werden, sind nicht echt. Verwendet einzig das offizielle Tool zur Implementierung/Testung des Codes unter dem angegebenen Link).
Weiterentwicklung und Verbreitung
»Wir haben das Projekt mit dem Ziel gestartet, das Bewusstsein für das Thema zu schärfen und einen Dienst anzubieten, der Menschen helfen kann. Die Idee des Projekts ist jedoch so weitreichend, dass es ein nützliches Marketinginstrument für NGOs sein kann, um ihre Partnerorganisationen für etwas Größeres zu gewinnen«, sagt Karolina Kaiser. »Das Potenzial ist da, um Marken und Organisationen zusammenzubringen, die sich bereits gegen Gewalt aussprechen, und einen Weg zu einer wachsenden Sensibilität für das Thema zu ebnen.«
Susan Greco fügt hinzu: »Auch das Handzeichen für Hilfe ist vielen Menschen nicht bekannt – ich selbst hatte sogar schon vergessen, dass es existiert. Das mag umso mehr für ländliche Regionen gelten. Je mehr wir also dieses Widget auf den vielen Websites sehen, die wir täglich besuchen, desto mehr tragen wir dazu bei, die Bedeutung und Wichtigkeit des Zeichens zu verbreiten.« Neben der Verwendung des Zeichens ist es wichtig zu wissen, wie man reagiert und sich verhält, wenn jemand das Zeichen gibt, und es ist wichtig, ein größeres Bewusstsein dafür zu schaffen.
Gleichzeitig kann die Normalisierung des Hilferufs viele Opfer ermutigen und ihnen Kraft geben. Sie könnten sich dadurch weniger isoliert fühlen, denn die Verbreitung des Hilfesignals über das Internet zeigt ihnen, dass sie nicht allein sind. »Wer weiß, vielleicht wirkt sich das auch auf die Täter aus, so dass sie ihr eigenes Verhalten in Frage stellen oder einen Schritt zurücktreten und zweimal überlegen, bevor sie handeln«, fügt Karolina hinzu.
Ein Ziel des Teams für die Zukunft des Projekts ist es, »barrierefrei und vielseitig einsetzbar« zu sein, d. h. Opfern unterschiedlicher Arten von Gewalt zu helfen, wie etwa Mobbing oder Menschenhandel, und insbesondere Menschen mit Behinderungen zu erreichen.
Hinweis: Dies ist ein laufendes Projekt, also gilt: dranbleiben für zukünftige Updates!
Melisa Akbaydar
Technical Writer
melisa.akbaydar@turbinekreuzberg.com