Das Digitale Erbe: IT-Systeme von Gestern

3. Dezember 2024 / Turbine Kreuzberg

Knapp die Hälfte der Unternehmen nutzt Legacy-Software für geschäftskritische Vorgänge. Wie Unternehmen den Spagat zwischen bewährter Technologie und notwendiger Innovation meistern.

Es ist ein gewöhnlicher Dienstagmorgen in der Zentrale eines mittelständischen Maschinenbauunternehmens. Annika, frisch gebackene Projektleiterin im IT-Bereich, steht vor einem flimmernden Bildschirm. Grüne Schrift auf schwarzem Grund – ein Anblick, der sie in ihre Studienzeit zurückversetzt. Doch dies ist kein nostalgischer Ausflug, sondern bittere Realität: Das Herzstück der Unternehmens-IT stammt aus einer Zeit, als »Friends« noch im Fernsehen lief und das Internet in den Kinderschuhen steckte.

»Unser ERP-System ist älter als einige unserer Mitarbeitenden«, seufzt Annika. »Aber ohne es läuft hier gar nichts.« Willkommen in der Welt der Legacy-Systeme – digitale Dinosaurier, die in vielen Unternehmen noch immer das Rückgrat der IT-Infrastruktur bilden.

Der Preis der Beständigkeit
Die Modernisierung von Legacy-Systemen ist mehr als nur ein technisches Upgrade – sie ist eine Überlebensfrage für Unternehmen. Laut einer aktuellen Studie sind in 44 Prozent der Unternehmen mindestens die Hälfte der geschäftskritischen Bestandssysteme schon lange in Betrieb. Diese Zahlen offenbaren ein Dilemma: Einerseits garantieren diese Systeme Stabilität und Kontinuität, andererseits bremsen sie Innovation und Agilität.

Manuel Blümel, Director Solution Design bei Turbine Kreuzberg, erklärt: »Veraltete Software-Systeme hindern Unternehmen, flexibel auf Veränderungen in ihren Prozessen oder im Markt zu reagieren. Die oft anzutreffenden ineinander verknoteten Strukturen in Legacy-Systemen kosten Zeit und Geld. Oft entstehen durch sie unnötig komplizierte Arbeitsprozesse.«

Warum ist eine Modernisierung so wichtig?
Manuel Blümel betont: »In der Vergangenheit sind Systeme häufig an Arbeitsabläufe angepasst worden, allerdings auf eine Art, die damals pragmatisch erschien. Das Geschäft verändert sich jedoch. Heute stehen Unternehmen, die weiterhin auf Legacy-Systeme setzen oft vielen, neuen Risiken gegenüber. Die Stabilität der Infrastruktur fehlt, die Fehleranfälligkeit erhöht sich und Maintenance und Weiterentwicklung werden erschwert.«

👉 Vorteile einer Modernisierung:


Kosteneinsparungen:

Reduzierte Instandhaltungskosten und effizientere Prozesse beschleunigen die Entwicklungszeit und minimieren Projektrisiken.


Flexibilität:

Durch moderne Architekturparadigmen und Schnittstellen lassen sich moderne Systeme flexibler in Geschäftsprozesse integrieren.


Sicherheit:

Legacy-Systeme bergen größere Risiken hinsichtlich der Datensicherheit des Unternehmens.


Risikominimierung:

Veraltete Systeme erhalten häufig keinen Herstellersupport mehr und sind schwer zu warten aufgrund weniger verfügbarer Fachleute.


 

Veraltete Software-Systeme hindern Unternehmen häufig, flexibel auf Veränderungen in ihren Prozessen oder im Markt zu reagieren. Software mit offenen Strukturen und Schnittstellen vereinfacht hingegen die Anpassbarkeit der Architektur, was Zeit- und somit auch Kostenersparnisse mit sich bringt.

Die Flexibilität moderner Systeme sorgt dafür, dass Unternehmen vor sich verändernden Marktsituationen gewappnet sind, da neue Funktionalitäten in moderne Infrastrukturen schneller integriert werden können. Anstatt stets neue Workarounds für Funktionen finden zu müssen, werden die modernen flexiblen Systeme entsprechend der neuen Situation angepasst.

Legacy-Systeme sind zudem nicht nur weniger flexibel und leistungsstark, sie bergen auch größere Risiken hinsichtlich der Datensicherheit des Unternehmens. Veraltete Systeme werden oft nicht mehr unterstützt, das bedeutet keine Sicherheitsupdates. Die Hersteller der alten Systeme haben sich neueren Versionen ihrer Software zugewandt oder existieren zum Teil gar nicht mehr. Sicherheitsupdates werden dadurch immer weniger oder existieren schlicht nicht mehr, Sicherheitslücken bleiben offen. Diese Lücken können von Angreifern genutzt werden, um wichtige unternehmensinterne Daten wie z.B. Finanz-, Personal- oder auch Kundendaten zu stehlen.

»Je länger die veraltete Software genutzt wird, desto größer ist die Gefahr, dass Schwachstellen durch fehlende Sicherheitsupdates ausgenutzt werden«, warnt Manuel Blümel. »Neben den zunehmenden Angriffsvektoren kann dies schnell zu rechtlichen Problemen führen, etwa Verstöße und Bußzahlungen für Verletzungen der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO).«

Yoav Kutner, CEO von OroCommerce, sagt: »Ob Sie Ihr Altsystem aktualisieren, ist keine Frage des Ob, sondern des Wann. In meiner Laufbahn habe ich viele Unternehmen gesehen, groß und klein, die fest entschlossen waren, ihr CRM oder ihre selbst entwickelte Technologie nicht zu ersetzen und sich Jahre später in umfangreichen Implementierungsprojekten wiederfanden.«

 
»Ob Sie Ihr Altsystem aktualisieren, ist keine Frage des Ob, sondern des Wann.«

 

Yoav Kutner
CEO von OroCommerce

Der Weg in die digitale Zukunft
Die Modernisierung von Legacy-Systemen gleicht einer Herztransplantation am offenen Patienten – sie muss behutsam und mit höchster Präzision erfolgen. Manuel Blümel empfiehlt: »Für eine gelingende Modernisierung sollte zunächst eine Bestandsaufnahme der Unternehmensanforderungen und der derzeitigen Systeme erfolgen. Eine detaillierte Analyse identifiziert potenzielle Schwachstellen und Entwicklungsmöglichkeiten.«

Dabei hilft es, klare Ziele zu definieren, die die Umgestaltung mit sich bringen soll, wie zum Beispiel Kosteneffizienz und eine verbesserte Benutzer:innenerfahrung. Dadurch kann zielgerichteter darauf hingearbeitet werden.

Er fügt hinzu: »Die Verlagerung der Legacy-Systeme in die Cloud bringt ebenfalls Vorteile für die Skalierbarkeit und potenzielle Kosteneinsparungen. Lastspitzen lassen sich schnell und gezielt abfangen, was die Stabilität der Infrastruktur erhöht.«

Die Hürden auf dem Weg zur Modernisierung
Die größten Herausforderungen bei der Modernisierung von Legacy-Systemen liegen oft nicht nur in der Technik, sondern auch in den Köpfen der Menschen. »In der Regel haben sich Mitarbeitende über Jahre an die bestehenden Vorgänge gewöhnt. Es ist entscheidend, das Team in den Modernisierungsprozess einzubeziehen«, erklärt Blümel. »Schulungen und Workshops können helfen, Mitarbeitenden die neuen Arbeitsprozesse näherzubringen.«

 
»Eine häufige Annahme ist, dass alles sofort geändert werden muss, was das Projekt überwältigend erscheinen lassen kann.«

 

Itay Braverman
VP Product bei OroCommerce

Laut Itay Braverman, VP Product bei OroCommerce, muss die Modernisierung eines Altsystems nicht auf einmal erfolgen: »Eine häufige Annahme ist, dass alles sofort geändert werden muss, was das Projekt überwältigend erscheinen lassen kann. Stattdessen können sich Unternehmen auf unmittelbare Prioritäten konzentrieren – wie die Verbesserung der Suchfunktion oder die Online-Verfügbarkeit ihres Katalogs – und gleichzeitig eine langfristige Vision für Ziele wie Skalierbarkeit und verbesserte Benutzererfahrungen beibehalten. Durch die Aufteilung des Prozesses in überschaubare Phasen können Unternehmen unnötige Störungen vermeiden und einen klaren Weg zu nachhaltigem Wachstum schaffen.«

Eine weitere Herausforderung ist die Datenmigration. »Mangelnde Dokumentation der veralteten Systeme und deren komplexe Geschäftslogiken sorgen für Probleme in der Migration der Daten in neue Systeme«, warnt Blümel. »Daten sind oft einfach nicht mehr für Dritte nachzuvollziehen. Dazu kommen überholte Datenformate, die erst umständlich in neuere umgewandelt werden müssen.«

 
»Das Ziel einer Modernisierung ist daher nicht nur aktuell zu sein, sondern auch aktuell zu bleiben.«

 

Manuel Blümel
Senior Solution Architect bei Turbine Kreuzberg

Nach der Modernisierung ist vor der Modernisierung

Die erfolgreiche Modernisierung von Legacy-Systemen ist kein einmaliges Projekt, sondern der Beginn eines kontinuierlichen Prozesses. Manuel Blümel betont: »Der Fortschritt von neuen Technologien ist unaufhaltsam und allgegenwärtig. Das Ziel einer Modernisierung ist daher nicht nur aktuell zu sein, sondern auch aktuell zu bleiben.«

Er empfiehlt: »Architekturparadigmen, wie moderne Schnittstellen, und klare Verantwortlichkeiten für die einzelnen Systeme innerhalb der Architektur sorgen für Flexibilität und Nachhaltigkeit. Zudem sind regelmäßige Audits wichtig, um auf dem neuesten technologischen Stand zu bleiben und nicht in alte Gewohnheiten zu verfallen.«

Wer den Blick über den Tellerrand der initialen Investitionskosten hinaus wagt und die Total Cost of Ownership über den gesamten Lebenszyklus der Software betrachtet, erkennt: Die versteckten Kosten von Legacy-Systemen übersteigen oft die Modernisierungsausgaben. Instandhaltung veralteter Software, Ineffizienzen im Arbeitsalltag und potenzielle Datenverluste summieren sich zu einem finanziellen Damoklesschwert.

Moderne Systeme hingegen entpuppen sich als Katalysatoren der Wirtschaftlichkeit. Sie bereichern Arbeitsprozesse vom ersten Tag an, schaffen flexible Lösungswege und lassen sich nahtlos in das Arbeitsgeschehen integrieren. So wird aus einer vermeintlichen Kostenbelastung eine Investition in die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens.

Manuel Blümel fasst zusammen: »Die Modernisierung von Legacy-Systemen ist eine Investition in die nachhaltige Fortentwicklung der Unternehmensstruktur. Um konkurrenzfähig auf dem Markt zu bleiben, ist eine Umstellung zu nachhaltigen und zukunftssicheren Systemen unabdingbar und öffnet die Türen für eine effizientere Software-Nutzung für die Zukunft.«

Projektleiterin Annika weiß, dass die Herausforderung gerade erst beginnt. Doch während der alte Bildschirm vor ihr flimmert, sieht sie bereits die Konturen einer dynamischeren, zukunftsfähigen IT. »Es wird nicht einfach«, sagt sie mit einem entschlossenen Lächeln, »aber es ist notwendig. Egal, wie gut sie einst funktioniert haben, für digitale Dinosaurier haben wir einfach keinen Platz mehr.«